Ja, was in den Medien derzeit abläuft, stinkt zum Himmel. Keine Frage.
Und jetzt?
Ist das neu? Nein.
Hätte es im antiken Rom schon Bild, Tagesschau und Facebook gegeben, dann könnten wir uns heute noch an spannendem Archivmaterial über die damalige Unterhaltungsindustrie ergötzen:
- YouTube-Filme wie z.B. "Live: Löwe zerfleischt Christin - die Menge jubelt!".
- BILD kommtiert: "Gerechte Strafe für das Pack!"
- Vor dem Geschehen: RTL interviewt die Verurteilte. Fühlt sie sich ungerecht behandelt?
- Auf FACEBOOK debattieren Gegner und Befürworter des Ereignisses darüber, ob man dem Löwen den Stress vor einem so großen Publikum antun darf.
- Nach dem Geschehen: Bei MAISCHBERGER diskutieren die Experten über die Frage, ob die Frau geistig zurechnungsfähig war, und ob und wie sehr es sich strafmildernd auswirkt, auf diesen seltsamen Jesus zu hören.
Also kein Unterschied zu heute, abgesehen von den heutigen kommunikationstechnischen Möglichkeiten?
Wer damals den Voyeur spielen und innerhalb der Masse das menschliche Drama miterleben wollte, der musste vor Ort sein.
Wer das nicht wollte, der blieb zu Hause.
Heute hat der Voyeur eine zweite Möglichkeit: Er bleibt zu Hause, kann dort aber im stillen Kämmerlein und zugleich inmitten der Masse bei ein paar Crackern gemütlich dem Drama auf der Spur bleiben.
Das ist praktisch. Denn eigentlich will der Voyeur ja gar keiner sein. Also, jedenfalls nicht so, dass jemand weiß, dass er einer ist. Viel lieber würde er als moralischer Nicht-Voyeur gelten. Vom heimischen Sofa aus ist das einfach:
Zuerst informiert er sich ausgiebig über die letzten Entwicklungen im neuesten Drama, verfolgt die Spekulationen, wärmt sich am rührenden Beiwerk (es gibt IMMER rührendes Beiwerk), holt sich den wohligen Schauer darüber ab, selbst sicher und lebendig auf dem Sofa zu sitzen, und freut sich, jetzt allen anderen um 1-2 Informationen voraus zu sein. Diese lässt er anschließend in diversen Chats und Kommentarspalten einfließen, dem Stammtisch der Moderne.
Aber nun folgt der Hauptspaß!
Man kann heute Voyeur sein, und trotzdem als moralischer Mensch gelten! Alles, was es braucht, ist ein bisschen Heuchelei. Nachdem man also die "Menschen, Tiere, Sensationen!"-Mentalität der Medien nach Herzenslust ausgenutzt hat, gibt man sich in den "sozialen Medien" moralisch entrüstet und echauffiert sich über die Journaille, der nichts mehr heilig ist. "Schämt euch!" - "Ekelhaft!" - "Schamlos!" wirft man den Medien vor... während man gleichzeitig die neuesten Entwicklungen aus ihren Live-Tickern postet.
Bei den moralischen Voyeuren gibt es wiederum zwei Varianten:
Den Voyeur, der weiß, dass er heuchelt, und der es genießt.
Und die weitaus interessantere Spezies, mit der weit größeren Verbreitung:
Den Voyeur, der sich seiner eigenen Heuchelei nicht einmal bewusst ist, sondern der sich selbst als Autorität selbstgerechter Moralität versteht.
Am Ende finden beide Arten jedoch wieder zusammen:
Bei den Medien sind sie heißgeliebt, sorgen sie doch für Auflage, Quote, Clicks - und damit für Geld, Geld, Geld.
Steckt in uns allen nicht ein Stückchen Voyeur?
Machen wir die Medien nicht für unsere eigene Schwäche verantwortlich, den Knopf zum Aus- oder Umschalten nicht zu finden?
Das Problem beginnt bei uns. Nicht bei der sogenannten Journaille, der wir dienen, damit sie uns dienen möge.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen