Samstag, 31. Oktober 2020

QAnon oder: Eine Entfremdung


 Warum tue ich mir das an?

Diese Frage stelle ich mir in diesen Tagen, wenn ich mich online auf den Seiten der Verschwörungsgläubigen umsehe. 

Es ist nur schwer auszuhalten, was dort vor sich geht, wie gehetzt und gehasst wird, geleugnet und gelogen, ohne jedes Hinterfragen geteilt und nachgeplappert. 

Faszination des Grauens? Ist es das?

Vielleicht. Aber es gibt eine ganz persönliche Geschichte dazu:


Ich hatte eine Freundin... 

Gute 20 Jahre währte diese Freundschaft. Fröhlich war die Freundin, herzlich, intelligent. Manchmal etwas zu leicht zu begeistern, und stur, wenn es darum ging, von einer einmal gefassten Meinung abzuweichen. Trotzdem habe ich sie oft auch um ihre Begeisterungsfähigkeit beneidet; um ihre Fähigkeit, für etwas "brennen" zu können. Vielleicht auch, weil ich selbst eher der sachliche und nüchtern abwägende Typ bin.

Heute beneide ich sie nicht mehr. 

Etwa 4 Monate ist es her, seit sie mich "entfreundet" hat. Damals noch über etwas so vermeintlich harmloses wie einen Dr. Spitzbart, den sie und ihr Mann für sich im Internet entdeckt und dessen Ansichten zu Corona und der Welt sie für sich übernommen hatten. Dieser Corona-Verharmloser war der neue Großmeister, und die neuen Helden (O-ton) waren jene Menschen, die gegen die (damals größtenteils bereits wieder außer Kraft gesetzten) Restriktionen im Zuge der Pandemiebekämpfung und für meine Bürgerrechte (die ich gar nicht in Gefahr sah) auf die Straße gingen. 

Dass ich alledem nicht ebenso begeistert gegenüber stand wie sie, hat unsere Freundschaft am Ende nicht ausgehalten. 


Die Veränderung

Ich hatte ihre "Wall" auf Facebook danach nicht mehr aufgesucht - ich wusste nicht einmal, ob sie mich vielleicht sogar blockiert hatte. Als mich aber Freunde fragten "Was ist denn da los?", habe ich ihre Seite besucht. Ich war fassungslos: Hier war in kürzester Zeit eine beängstigende Veränderung mit einem Menschen vorgegangen. 

Ich befand mich auf ihrer Wall im trübsten Verschwörungsgewässer wieder. 

Heute wird dort nicht mehr "nur" Corona als Realität abgelehnt. Heute wird gehasst, verurteilt und gedroht. Heute leben wir alle angeblich in einer Dikatur, aus der und vor der wir uns retten müssen, und sei es durch Kampf und Umsturz. Heute müssen die "Fake News Medien" ersetzt werden durch eigene Medienportale als den einzigen Verbreitern der "Wahrheit". Heute will man eine neue Weltordnung errichten, notfalls mit Gewalt. 

Die zionistische Weltverschwörung muss bekämpft werden, vorher kann es keinen Weltfrieden geben. Der früher einmal nur von wenigen Hardcore-Verschwörungsschwurblern geglaubte und ansonsten als Zeichen galoppierenden Wahnsinns gesehene "QAnon"-Glaube wird gelebte Realität.


QAnon?

Wer jetzt, wie auch ich noch bis vor wenigen Monaten, bei dem Begriff "QAnon" nur ein großes Fragezeichen auf dem Stirne hat, dem rate ich dringend, sich zu informieren, denn diese aus den USA stammende und vom FBI unter Terrorverdacht gestellte Bewegung fasst inzwischen auch in Deutschland Fuß. Einige Quellen hier:

Die Zeit

Die Welt

Time Magazine (englisch) 

 Der Spiegel - Podcast

Man spricht sich untereinander mit "ihr Aufgewachten" an (denke dabei nur ich an "Deutschland, erwache!" aus schlimmster Vergangenheit?), während wir anderen die "Schlafschafe" sind, die es zu wecken gilt - "und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!" wusste schon Goethe zu schreiben. "Stay awake" - so ist unter ihren Profilbildern zu lesen.

Die Polizisten, denen man sich auf Demos gegenüber sieht, werden entweder mit vielen Herzchen als Beinahe"überläufer" geschildert, die "Tränen in den Augen haben" (wie man das hinter den Visieren der Schutzhelme gesehen haben will - naja, sei's drum) oder aber als die "Scheißbullen", die eine "Erstürmung" des Reichstages verhindert haben und von denen man "weiß", dass sie eine Schwangere geschlagen und eine andere Frau getötet haben. Ganz wie es halt gerade beliebt.

[Wer an der Wahrheit interessiert ist, der findet sie hier: Polizei Berlin und hier: mimikama und hier: mimikama]


Die Retter: Trump und Putin!

Im Gegensatz zu unserer "Merkeldiktatur" werden Trump und Putin als wasserreine Demokraten kriecherisch verehrt - sie und nur sie allein sind die Rettung.

QAnons ergehen sich in feuchten Träumen darin, wie sie durch und mit Trump und Putin unsere Politiker, Journalisten und Wissenschaftler qua Strafanzeige hinter Schloss und Riegel bringen werden - Todesstrafe ohne Prozess, bitteschön!. Vorweggenommen auch schon mal auf Plakaten und Listen, auf denen die Vor-Verurteilten in Sträflingskleidung und der Aufschrift "SCHULDIG!" oder mit dem vorweggenommenen Urteilsspruch "Gefängnis/exekutiert" dargestellt werden. 

Hier werden gleich mehrfach Erinnerungen wach: In der jüngeren Vergangenheit an den Rufmörder Trump, der seine faschistoide Anhängerschaft zu "lock her up"-Sprechchören aufstachelte, gerichtet an seine damalige politische Gegnerin Hilary Clinton. Und es werden - wie schon mehrfach gesagt - Anklänge an eine deutsche Vergangenheit deutlich, von der wir "Schlafschafe" lange geglaubt hatten, dass sie endgültig hinter uns läge.


Ent-Menschlichung

Noch etwas ich in diesen Kreisen wahr, und auch hier finde ich Anklänge an eine unselige deutsche Vergangenheit:

Menschen werden sprachlich ent-menschlicht. Kanzlerin Merkel wird als "Bitch" bezeichnet, oder ihr Name zu "Ferkel" verformt. Der Virologe Drosten ist "dieses Teil". Was man dem "Ferkel" und "diesem Teil" wünscht oder selber gerne antun würde - nein, ich wiederhole es nicht. Aber indem ich einem Menschen abspreche, wenigstens noch ein Mit-Mensch zu sein, der mit den gleichen Menschenrechten versehen ist wie ich, erleichtere ich es mir und anderen, diesem "Teil", diesem "Ferkel" nach und nach auch alle anderen Rechte abzusprechen - bis hin zum Recht auf Leben.

Ich habe mir damals - nach der eigentlich recht harmlosen Auseinandersetzung, die unsere Freundschaft beendete - mehrfach Vorwürfe gemacht: Hätte ich doch einfach nichts gesagt, hätte gar nicht kommentiert auf die effektheischenden Behauptungen des Dr. Spitzbart, hätte einfach alles ignoriert, was da vor sich ging. Hätte ich mich doch herausgehalten und geschwiegen.

Wenn ich geschwiegen hätte... 

...vielleicht wäre alles noch gut zwischen uns, und diese "Phase" bei ihr dann recht bald vorbei. So dachte ich bis vor einer Weile.

"Wenn ich geschwiegen hätte..." - nein, wir wären heute trotzdem nicht mehr befreundet. Ich hätte es nicht ertragen. Ich hätte zu dieser Radikalisierung irgendwann nicht mehr schweigen können.

 "Schlafschafe" nennen sie uns. Was die neuen Volksverführer angeht, haben sie nicht Unrecht - wir haben lange geschlafen ob der Tatsache, welche Volksverführer derzeit ihr Unwesen treiben, in Deutschland und weltweit. 


Kampf gegen die Windmühlen der Vernunft

Hier sind Menschen, für die jede Äußerung Trumps einer göttlichen Offenbarung gleicht. Menschen, die sich mit selig-entrücktem Gesichtsausdruck neben ihren verlogenen Heilsbringern fotografieren lassen. Menschen, die wie eine Heerschaar von Don Quijotes gegen die Windmühlen der Vernunft ankämpfen, weil man sie ihnen als die Inkarnation des Bösen vorgestellt hat.

Sie glauben an Chemtrails, an den "Deep State", an Kinderblut trinkende Eliten, und an die Wiederkehr von Elvis, Prinzessin Diana und JFK jr., die alle versteckt leben, bis die große Verschwörung aufgedeckt wird, alle Verantwortlichen exekutiert und wir der neuen Weltordnung unterworfen werden.

Von harmloser Esoterik zu gewaltbereiten Anhängern der QAnon-Sekte in wenigen Monaten - das ist beängstigend, besonders, wenn man beobachtet, wie viele Menschen hierzulande diesen Weg bereits gegangen sind. Hier hat eine Entfremdung auf gleich mehreren Ebenen stattgefunden: Von Familie und Freunden, ja, aber auch von Demokratieverständnis und Dialogbereitschaft, und von dem, was man wohl als geistige Gesundheit bezeichnen muss. Zusätzlich beängstigend ist das Wissen, dass die QAnon-"Bewegung" aus den USA zu uns gekommen ist und dort schon seit Jahren wütet; man mag sich kaum vorstellen, wie es inzwischen um den Geisteszustand eines Teils der US-amerikanischen Bevölkerung bestellt sein muss.

Mitschuld

Während ich dies hier schreibe...

...liegt ein nicht zu einer Risikogruppe gehörender Bekannter am Coronavirus erkrankt im Sterben
...gibt es von einem im Ausland lebenden und an Corona erkrankten Bekannten seit Tagen keine Nachricht
...ist die in einem Pflegeheim arbeitende Schwester einer Freundin an Corona erkrankt
Ich gebe den neuen Volksverführern - jenen ihr Ego und ihren Geldbeutel bedienenden Marktschreiern der Verschwörungsindustrie - und auch ihren radikalisierten "erwachten" Anhängern hieran zumindest eine Mitschuld.