Sonntag, 14. Oktober 2018

Vertane Zeit

Im Englischen gibt es das Sprichwort "Time wasted is time lost", also: Verschwendete Zeit ist verlorene Zeit.

Etwas verschwenden, das uns ohnehin in schwindelerregender Geschwindigkeit zwischen den Fingern zerrinnt, nein, das will niemand.

Wie haben gelernt, unsere Zeit in jeder wachen Sekunde effektiv zu nutzen:

Wir verschwenden keine Sekunde darauf, uns nur auf eine Sache zu konzentrieren. Gleich nach dem Aufstehen dudelt in allen Räumen das Radio. So hören wir beim Zähneputzen wenigstens schon mal die ersten Nachrichten. Während wir vor der Maschine auf den Kaffee warten, rasch einmal Facebook gecheckt, was es seit gestern Abend so neues gibt bei den Freunden.

Im Büro in der Frühstückspause brötchenkauend die neuesten Verträge gelesen. Widersprüchliche Aussagen, deren Widerspruch niemandem mehr auffällt:
"Arbeite nicht zu viel; jeder hat nur zwei Hände und einen Kopf, auch Du."
und
"Das muss heute unbedingt noch fertig werden."

Aber das ist in Ordnung - am Abend zu Hause nur vor dem Fernseher sitzen, wäre eh Zeitverschwendung, da lassen sich gleichzeitig noch rasch ein paar Emails beantworten. 

Und bei der Hausarbeit läuft ein Hörbuch oder ein Sprachkurs, damit auch der Kopf beschäftigt bleibt und die Zeit nicht völlig verplempert wird.

Jede Sekunde will effektiv ausgenutzt sein - es soll an Quantität und Qualität so viel wir nur irgend möglich in sie hineingestopft werden.

Eine Frage:

Müssten wir mit dieser Lebensweise nicht jeden Abend mit dem zutiefst befriedigenden und beruhigenden Gefühl zu Bett gehen, den Tag optimal genutzt zu haben?

Noch eine Frage:

Weshalb liegen wir stattdessen da und fühlen uns, als habe uns zwischen Aufstehen und Zubettgehen nur ein weißes Rauschen umgeben?

Und noch eine letzte Frage:

Was hieße denn eigentlich "Zeit verschwenden"?

Ich habe kürzlich an einem Sonntag die mir geschenkte Zeit verschwendet. Ich war noch durch die "Ausläufer" einer Grippe ausgebremst und daher nicht in der Lage, den Tag "effektiv" zu nutzen.

Wie sah das aus?

Ich habe Kaffee getrunken. Nur Kaffee getrunken. In der Stille. Ohne Radio, ohne Facebook, ohne Buch oder Magazin.

Ich habe ein Buch gelesen. Nur gelesen. In der Stille. Ohne Ablenkung. Sogar ohne den gleichzeitigen Griff zur Kaffeetasse.

Ich habe in Facebook geblättert. Sonst nichts. Nur das. In der Stille.

Ich habe einige Whatsapp Nachrichten beantwortet. Auch hier: Sonst nichts. In der Stille.

Ich habe in der Sonne gesessen. Nur gesessen. Mit geschlossenen Augen.

Einige Male habe ich bei all dem auf die Uhr geschaut. Und mich gewundert, dass immer noch "so viel Tag übrig war", obwohl ich ihn doch gerade sträflich verschwendete.

Aaaaah, Moment, an diesem Punkt kommt bestimmt ein Schlaumeier daher und sagt
"Klar, bei so viel Langeweile MUSS es einem ja vorkommen, als dauere der Tag ewig!"

Irrtum, Herr Schlaumeiner, Langeweile hatte ich an diesem Tag nicht für eine Sekunde. Ich habe im Gegenteil den völlig verschwendeten Tag genossen und bin mit einer inneren Ruhe aus ihm hervorgegangen, die viele von uns heute in teuren Seminaren wieder zu erlernen suchen.

Ich weiß. Nichts von dem, was ich hier schreibe, ist neu - dass unser "effektives Zeitmanagement" uns in Wirklichkeit der Zeit beraubt, wusste schon Michael Endes Momo. Und wie wichtig es ist, uns selbst gelegentlich in der Stille einfach zu "ertragen", ist uns ei-gent-lich ebenfalls klar.

Aber wir leben nicht danach.

Wir wissen es besser, und auch unsere Erfahrungen lehren es uns anders. Trotzdem jagen wir Tag für Tag der Zeit hinterher, als glaubten wir, sie am Ende sogar überholen zu können.

Letztendlich ist es aber wie mit der Jagd nach unserem Schatten:

Wir können ihn nicht einholen, aber wir können eins mit ihm werden. Aber nur, wenn wir aufhören, ihm hinterzurennen.

2 Kommentare:

  1. Liebe Heike, möge „Herr Schlaumeier“ Dich nie mehr eines Schlechteren belehren! Gott ist das Ewige Jetzt. Sein Wille ist Heilige Liebe – ohne Ablenkung – im gegenwärtigen Augenblick. Gott ist in der Stille und lädt uns dorthin ein. Das was Du, Heike, so erfolgreich gelebt hast, ist nicht zu finden in teuren esoterischen Kursen und Anwendungen. Sie ist uns ganz umsonst geschenkt! Und zum Nulltarif schenkst Du sie weiter in Deinem Blogbeitrag!

    Wirklich überraschend: Dein Zeitverschwendungs-Erlebnis ist in Wirklichkeit ein Zeitgeschenk! Es tut gut und lässt nichts verpassen, was wirklich wichtig ist. „Wir können eins werden mit unserem Schatten, wenn wir ihm nicht mehr hinterher rennen.“ Wem rennen wir nicht alles hinterher? Dem Erfolg, dem Ruhm, dem Genuss, dem Haben und allem was süchtig macht. Dabei scheuen wir wie der Teufel das Weihwasser alles, was uns wirklich gut tut! Man wagt einfach nicht in den Spiegel des eigenen Herzens zu schauen…

    Man verlernt das Älterwerden und die kleinen Dinge wahrzunehmen und sich darüber zu freuen! Das ist mir in der Letzten Woche bewusst geworden durch die Entdeckung eines Jahrzehnte alten Gedichts meiner Patentante Hedwig, die ihren morgigen Namenstag ganz sicher im Himmel feiert. Zurfällig gefunden hatte das Gedicht meine Cousine Christel. Es lautet:

    „Zum Spätherbst meines Lebens
    Die Sonne lacht vom Himmel blau
    als sein es Sommerzeiten
    Und doch - ein wenig Wehmut will
    ins alte Herze schleichen!
    Auch freut ein kleines Vögelein
    Auch freut ein bisschen Sonnenschein
    Gras - Blumen an den Wegen.
    Ach - Gottes Welt ist immer schön
    Ich will des Herrgotts Wege gehn,
    so wie er sie will geben!
    Ich geh an meines Schöpfers Hand
    selbst wenn der Weg ist unbekannt
    im Spätherbst meines Lebens!
    "Te Deum" klingt es leis in mir.
    Du Vater, bist ganz nah bei mir
    im Spätherbst meines Lebens...“
    Ja. Jetzt ist auch Spätherbst meines Lebens!…...

    AntwortenLöschen
  2. Die größte Zeitverschwenderin ist übrigens die Kirche. Da wird gebetet, in Anbetung, Rosenkranz, Messe, einfach nur stillem Gebet oder gemeinsamem Gebet, im mönchischen Stundengebet - und immer nur das.
    Und das ist der Boden, auf dem Liebe und Kultur wachsen.

    AntwortenLöschen