Sonntag, 2. September 2018

Eine Freundschaft schleicht sich aus

Der Begriff des "Ausschleichens" stammt aus der Medizin - er bedeutet, eine Arznei in immer kleineren Dosen zu nehmen, bis man sie letztlich ganz absetzt.

Aber eine Freundschaft, die sich ausschleicht? Wenn eine Freundschaft endet, geschieht das nicht eher plötzlich, im Streit? Aber ein Streit ist nicht zwingend das Ende einer Freundschaft - nicht einmal dann, wenn beide Parteien der Meinung sind "Mit dem/der rede ich nie wieder ein einziges Wort!".

Gleichgültigkeit streitet nicht

In jedem Streit, und sogar im darauffolgenden langen Schweigen, liegt immer ein unterschwelliges "Du bist mir wichtig". Ohne Interesse am anderen wäre ein Streit nicht möglich. Eine Freundschaft, die im Streit endet, stirbt nicht wirklich, denn sie kann wiederbelebt werden, auch wenn man das zur Zeit des Streites im Leben nicht würde zugeben wollen.

Gleichgültigkeit dagegen streitet nicht, denn Gleichgültigkeit sagt "Mir ist alles andere wichtiger als du" und "Deine Meinung, dein Leben, alles was du mir zu sagen hättest - es interessiert mich nicht.".

Daher ist der wirkliche Tod einer Freundschaft ein stetiger und so langsamer Prozess, dass man ihn erst wahrnimmt, wenn man eines Tages erschrocken vor der Leiche steht:

Gleichgültigkeit mordet

An einem Nachmittag in dieser Woche saß ich in einem Straßencafé in der Innenstadt, als auf der anderen Straßenseite eine alte Freundin aus einem Laden trat und ohne mich zu sehen die Straße hinaufging. Kurz darauf sah ich sie wieder hinunterkommen. Ich beobachtete, wie sie vorbeiging und kurz darauf verschwand.

Da saß ich, zutiefst erschrocken darüber, dass ich nicht den leistesten Impuls hatte, sie zu rufen oder zu ihr hinüberzulaufen. Ihre Gleichgültigkeit war zu meiner Gleichgültigkeit geworden - und da war sie: Die Leiche unserer Freundschaft.

Vor gut 2 Jahren hatten wir uns zuletzt gesehen. Dazwischen ihre Anrufe, immer von unterwegs, immer gleich ablaufend:
"Alles gut bei dir keine Zeit wie immer bin unterwegs zur Kundin wir müssen uns unbedingt mal wieder sehen bist du heute Abend zu Hause ich rufe ich nachher mal an dann reden wir tschüß."
Eine Weile habe ich auf die Rückrufe noch ernsthaft gewartet, aber sie kamen nie. Dazwischen ein paar geplatzte Termine und Anfragen, wann wir uns mal wieder sehen, aber ohne Antworten auf mein "Gerne, sag mir einfach, wann es dir passt.".

Einmal eine lange Mail von mir, als mir aufgrund einiger Dinge endgültig der Kragen platzte - im Grunde war es die Frage, weshalb sie überhaupt weiter anriefe, wenn sie doch klar an unserer Freundschaft nicht interessiert sei, sowie die Feststellung, wie sehr es mich verletzt hatte, nach langem Schweigen nur dann kontaktiert worden zu sein, weil ich als Notnagel dienen sollte.

Kurzlebige Einsichten

Danach eingeschnapptes Schweigen, bis zu einem Anruf, der auf einen Todesfall in ihrer Familie folgte: Ihr ständiger "Zeitmangel" hatte dazu geführt, dass sie die Schwerkranke nicht mehr rechtzeitig vor ihrem Tod besucht hatte, und sie habe nun (wieder einmal) verstanden, wie viel wichtiger Familie und Freunde doch seien als die Arbeit, und sobald sie von der Beerdigung zurück kämen
"...müssen wir uns sehen und wir machen jetzt sofort einen Termin aus und dann machen wir uns einen schönen Tag und halt bloß das Datum fest und ich freu' mich schon bis bald!"
Drei Tage vor dem Termin der Anruf, dass sie wahrscheinlich bis dahin krank sein würde. Dem war dann auch so. Ihre Kundinnen konnte sie am gleichen Tag trotz eigener ansteckender Krankheit allerdings betreuen. Ich dachte mir, und denke es heute noch, dass wohl schlicht die Verkaufszahlen wieder die Oberhand über neu gewonne Einsichten gewonnen hatten.

Der Mensch neigt dazu - und hier schließe ich mich nicht aus - auch die weisesten Einsichten wieder zu vergessen, sobald sie nicht dem eigenen Nutzen zu dienen scheinen.

"Keine Zeit" - nur die Ausrede für die eigene Gleichgültigkeit?

Liegt es wirklich an der mangelnden Zeit? Ich habe es lange als Entschuldigung durchgehen lassen. Wenn ich aber heute auf meine anderen Freunde sehe, dann wird mir klar:

Da ist die Freundin mit Mann und drei kleinen Kindern, die trotzdem alle paar Wochen Zeit findet, abends 1-2 Stunden mit mir zu telefonieren.

Da ist die Freundin mit Mann und Tochter und hochanstrengendem Job, die trotzdem regelmäßig per Whatsapp schreibt, gelegentlich anruft und mich - sie wohnen weiter weg - vor kurzem zu einem Wochenende zu sich eingeladen hat.

Da ist die Freundin, die ebenfalls einen anstrengenden Job hat und die, solange ich sie kenne, immer einen Terminkalender "wegen Überfüllung geschlossen" unterhält. Da bedeutet es mir viel, wenn ich vor meinem Geburtstag höre
"Den Tag habe ich mir im Kalender extra freigehalten."
und es auch sonst immer mal wieder zu einem gemeinsamen Frühstück mit viel Klatsch und Tratsch reicht.

Da ist die Freundin mit Mann und sage und schreibe 5 Kindern, die es trotzdem erst kürzlich geschafft hat, mich auf einen ausgedehnten Tratsch zu besuchen.

Die Künstlerin der Maske

Ich merke gerade, wie glücklich ich bin, dass ich diese Freundesliste sogar noch fortsetzen könnte. Warum also überhaupt dieser Blogbeitrag?

Wohl, um die Trauer aufzuarbeiten, die ich eben trotzdem beim Anblick der Leiche einer alten Freundschaft empfand. Und um mich selber (und vielleicht einige Leser?) daran zu erinnern, dass nichts so tödlich für eine Freundschaft ist wie die Gleichgültigkeit. Vor allem, weil sie eine Künstlerin der Maske ist, die sich tarnt als:
"...keine Zeit... nicht jetzt ... später... morgen... so viel zu tun... wenn die ganze Arbeit nicht wäre... ich würde ja gerne, aber... ich muss erst noch... nächstes Mal gerne..."

1 Kommentar:

  1. "Die Leiche einer Freundschaft" darf es nicht geben. Die Antwort auf Gleichgültigkeit darf nicht Gleichgültigkeit sein, sondern Festhalten im Gebet! Das schönste Wort für Gott heißt TROTZDEM.

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