Mittwoch, 13. August 2014

"Das kann/darf man so nicht sagen/sehen."

Gott, ich hasse diesen Satz! Du auch?

So ein Satz relativiert alles, nimmt mir sofort den Wind aus den Segeln, lässt mich dastehen als einer, der überreagiert oder einfach negativ "drauf" ist.

Klare Worte? Klarer Standpunkt? "Och, nöö, das kannst du jetzt soooo aber nicht sagen - ich dachte, wir haben uns alle lieb?"

Schlechtes Gewissen.

Miese Stimmung, und diese einfach mal ausgekotzt? "Och, nööö, du, das darfst du jetzt sooooo aber nicht sehen - sei doch nicht so negativ."

Pflichtschuldiges Lächeln aufgesetzt.

Auf Fox News bezeichnet der Sprecher Robin Williams wegen seines Selbstmords als Feigling. Darüber regen sich einige bei Facebook auf und möchten eine Petition unterstützen, welche die Entlassung des Sprechers fordert.
Hauhauahauaha! Da schlagen sie los, die Zwangsrelativierer:
"Das kannst du so doch nicht sehen. - Wenn man da jeden gleich entlassen wollte. - Bestimmt hat der das nicht so gemeint. - Ach, Fox, wer nimmt die denn ernst?"
Reg' dich bloß nicht über Ungerechtigkeiten auf, ist die Devise, denn erstens ist es anderswo immer noch schlimmer, und zweitens war es sowieso gar nicht so gemeint,  und außerdem darfst du das so auch gar nicht sehen... ach so, stimmt, das hatten wir ja schon.


Den Film, der gerade online steht - nöö, den darfste auch nicht teilen. Der zeigt im Rückwärtszeitraffer, durch welchen Lebensstil ein 35jähriger mit Herzinfarkt in der Notaufnahme landet. Endet damit, dass wir sehen, wie dem kleinen Kerlchen von Mama die Pommes in die Schnüss gestopft werden. Wie gesagt: Sowas darfst du nicht an deiner Wall teilen.
"Das darfst du so (vereinfachend) aber jetzt nicht sagen."
Ach ja?
Nicht? Warum?
Doch, darf ich!
Und zwar aus zwei Gründen:
Erstens: Ich hab's selber erlebt. Dafür bedanke ich mich bei meiner Mutter posthum heute noch. Und als dickes Kind in den 80ern aufzuwachsen, war nicht so "normal" wie dicke Kinder heute (leider) sind. Sich Scheiße fühlen, und aus diesem Gefühl heraus weiterzufuttern, ist mir gut bekannt. Und die Quälerei, die es gekostet hat (und immer weiter kosten wird), auf meine heute 65 kg zu kommen und sie auch zu halten, die wünsche ich keinem.
Zweitens: Es geht bei dem Film nicht um ein Niedermachen der Dicken (oje, das hätt' ich jetzt sicher auch wieder nicht sagen dürfen...), sondern um eine Nachricht an die heutigen Mütter kleiner Kinder, die da lautet: "Bitte, bitte, denkt darüber nach, was ihr euren Kinder zu Essen gebt! Fastfood ist die einfache Alternative und wird gerne genommen, und der süße Plunsch wird auch williger getrunken als der ungesüßte Tee, aber die Anlagen, die ihr in diesen Jahren legt, schleppt euer Kind ein Leben lang mit sich herum! Schaut, dass es lernt, Obst und Gemüse als ernsthafte Ernährungsalterntive zu betrachten."
Aber trotzdem - in der Zeit des allgemeinen Relativismus ist so eine Message natürlich hochexplosiv, weil... man darf das nun mal einfach nicht so einfach sehen...

Schlimmer noch finde ich für mich persönlich die Heiterkeits- und Gelassenheitsneurotiker...

Gestern war "so ein Tag". Nein, kein Tag der lustigen Missgeschicke. Sondern einfach so ein Tag, an dem man keine Lust darauf hat, das, was einem nicht passt, zu übersehen, es wegzulachen, abzunicken, die positiven Seiten zu sehen etc. Manchmal geht das nicht - und dann hilft nur: Rauslassen. Einfach mal in Scheißlaune sein und das auch sagen. "Ich find' es Scheiße, dass..." Früher ging das. Nee, echt jetzt: Früher war das kein Problem. Wenn du da gesagt hast "Mensch, das ist doch Scheiße!", dann hattest du ein paar Leute um dich, die haben genickt, "Jep" gesagt, oder "Isso", und dann haben sie weitergemacht, mit was auch immer. Kannst du heute vergessen. Scheiße-drauf-sein ist nicht mehr erlaubt. Heute geht das so:

Auf
"Boah, dieser Scheißregen!"
folgt
"In Afrika wären sie froh drüber. - Reg dich doch nicht auf, kannst es eh nicht ändern. - Besser, als wenn's so heiß wäre. - Mit passender Kleidung alles kein Problem."
(Wobei der letzte Satz natürlich der Alltime-Favorit ist.)

Auf
"Mensch, was'n Dreckssommer!"
kriegst du
"Wir hatten auch schöne Tage. - Das Frühjahr war dafür ganz toll. - Vielleicht bekommen wir wenigstens einen goldenen Herbst."
(Für mich klingt das wie: Okay, die Vorspeise war gut, der Hauptgang ist ausgefallen, aber vielleicht bekommen wir zum Nachtisch nen Riegel Schokolade?")

Auf
"Scheiße, Robin Williams ist tot."
kriegst du
"Ja, schlimm. Aber jetzt geht's ihm besser. - Das ist halt so bei Depressionen, da steckste nicht drin. - Naja, hat aber vorher ein tolles Leben gehabt."


Es ist, als würden sie hinter den Büschen und Hausecken lauern, diese Leute mit Optimismuszwang, um dir gleich und sofort und mit Nachdruck zu erklären, dass und warum du aber auch gar keinen Grund hast, mies drauf zu sein. Lächeln ist angesagt. Funktionieren. Denn du kannst nicht gleichzeitig mies drauf sein und funktionieren. Doch, kann ich. Aber das geht denen nicht ein. Ich kann sogar gerade DESWEGEN funktionieren, eben WEIL ich manchmal zulasse, einfach schlecht drauf zu sein und das auch abzulassen.

Ich hab' die ganze Zeit Kopfmusik: Dauernd singt es "Aaaalways look on the briiiight si-ide of life! [pfeif] Aaaaalways..." Monty Python. Kennt ihr sicher.

Ich find's ja nett, wenn Leute Leute aufheitern wollen. Oder wenn Leute Leuten sagen, auch mal auf die "bright side of life" zu schauen. Aber ich wünschte, Leute würden Leuten auch einfach mal zugestehen, nicht gut drauf zu sein, statt ihnen ein Gummiband verpassen zu sollen, das die Mundwinkel permanent nach oben zieht.

Im Ernst jetzt - ich glaube, wir brauchen das. Jeder von uns. Der eine ein bisschen mehr, der andere ein bisschen weniger.

Für Menschen mit Depressionen (zu denen ich GOTTSEIDANK nicht gehöre, aber ich kannte und kenne einige) ist es im Miteinander mit ihren Mit-Menschen das allerschlimmste, während eines "Tiefs" solch gute Ratschlage zu hören wie "ach, ist doch alles nicht so schlimm, einfach mal lächeln, dann schaut die Welt gleich wieder besser aus" oder "denk doch mal drüber nach, wie GUT es dir doch eigentlich geht!" oder "du denkst überhaupt einfach zuviel nach". Das läuft immer auf das gleiche hinaus: Es wird suggeriert "Im Grunde bist du selber schuld an deiner Krankheit". Und manchmal frage ich mich - ernsthaft - ob nicht manche Schübe bei krankhaft Depressionen ausblieben, oder milder wären, wenn sie sich nicht so krampfhaft bemühen würden (weil müssten), nach außen zu funktionieren, die Maske aufzubehalten - weil ansonsten die Aufheiterungsmafia über sie herfallen würde.

Für mich selber gilt:




Lasst mich doch einfach mal motzen.
Lasst mich doch einfach mal schlecht drauf sein.
Lasst mich doch einfach mal ein paar Stunden nur dumm rumsitzen.

Lasst mich doch einfach mal.

Sonst könnt ihr mich.


















2 Kommentare:

  1. Zu Menschen mit Depressionen gehörte ich mal. Ein bißchen aufpassen muß ich da wohl immer. Und da geb ich Dir mal so was von Recht! Ja, das KANNSTE WOHL SO SAGEN!
    Und den ganzen Rest auch. Bei mir waren der Auslöser fürs Fettwerden zwei entzückende alte Damen im Krankenhaus, die der armen kleinen Maus im gleichen Zimmer immer ihre Schokopuddings zuschusterten, weil sie ja sooo schlecht dran ist, die Kleine. Naja... war lieb gemeint.

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  2. Wenn mich jemand fragt, wie es denn so ist, sage ich meinen Standardspruch: Könnt schlechter sein! Meistens mein ich das auch so, ohne den ewigen Optimisten raus zu hängen. Es könnte nämlich wirklich schlechter sein, auch mit Normalgewicht. Ich leide auch nicht unter Depressionen, Gott sei Dank, allerdings würde ich einem depressiven Zeitgenossen nicht auch noch in seiner Sichtweise unterstützen, indem ich ihm bescheinige, wie schlecht er doch drauf ist. Manche Berufsoptimisten sind halt auch nur Laien und keine Therapeuten.

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